Ein schreckliches Unwetter zog über eine kleine Stadt Namens Merlina an der nördlichen Küste des Landes Aria. Es stürmte heftig und es goss wie aus Kübeln. Blitze tauchten alles in ein schauriges Licht und der Donner grollte wie ein wütendes Tier. Riesige Wassermengen schlugen unaufhaltsam gegen die steil abfallenden Klippen und versprühten einen salzigen Schauer, bevor sie wieder zurück in die tobende Gischt fielen.
In diesem schrecklichen Unwetter stand eine junge Frau auf dem höchsten Punkt der Küstenlinie und blickte mit wehendem Haar auf das offene Meer hinaus, auf dem sich ein riesiger Wasserzyklon wirbelnd seinen Weg suchte. Der Wind heulte und pfiff um die Ecken der Häuser, die dicht gedrängt aneinander standen, als suchten sie gegenseitigen Schutz. Hätte es jemand gewagt die schützenden Mauern der Stadt zu verlassen, so wäre er zweifellos in den Abgrund gerissen worden an dessen Ende die aufgewühlte See tobte.
Nicht so die zierliche junge Frau, deren Schönheit man nur erahnen konnte, versteckt unter wallenden Seidentüchern. Denn eine schützende, blau pulsierende Aura umgab sie, ausgehend von einem Stoffbündel, das sie an ihre Brust drückte. Es war ein Baby, fest eingewickelt in warme Decken, so, dass nur das kleine, rundliche Gesicht sichtbar war. Das Mädchen schlief ruhig und völlig unbeeindruckt von dem Trubel, der sich um es herum abspielte, unwissend, welche Kräfte ihm angeboren waren.
Die junge Frau seufzte leise und drehte sich dann von den Klippen weg. In ihren blauen, freundlichen Augen glitzerten Tränen und sie schien dem Sturm, den sie als kaum mehr als einen sanften Wind wahrnahm ebenso wenig Beachtung zu schenken, wie ihre Tochter. Zielstrebig lief sie durch die vielen Gassen der Stadt bis zu einem alten, sehr heruntergekommenen Haus, welches ein wenig abseits von Merlina stand. Die ehemals weisse Farbe war längst abgeblättert und der Wind peitschte die alten Fensterläden hin und her. Immer wieder schlugen sie mit einem lauten Knall gegen die Wände, bis sie schlussendlich aus den Angeln gerissen und weggeweht wurden.
Dieser trostlose Ort war nichts anderes, als das örtliche Waisenhaus.
Das ist die einzige Möglichkeit. Es ist besser, wenn sie weit, weit weg von ihrem Geburtsort aufwächst, weit weg von allen Gefahren …
Die Frau drückte das Baby an sich, gab ihm einen letzten Kuss auf die Stirn und legte das Kleinkind behutsam vor der Eingangstüre des Gebäudes auf den Boden. Dann fasste sie mit ihrer rechten Hand in die Manteltasche und holte den Viertel eines Amuletts hervor. Er war aus reinem Gold und mit hellblauen Steinen reich verziert, welche in so hellem Licht erstrahlten, wie der Vollmond in wolkenlosen Sommernächten.
Das Baby schlief noch immer so friedlich wie zuvor und für einen Sekundenbruchteil schien es, als würde ein glückliches Lächeln über sein Gesicht huschen …
Vorsichtig, um es nicht zu wecken, legte die junge Frau das Amulett um den Hals des Kindes. Es schien nun noch heller zu leuchten und der Sturm nahm ein letztes Mal in seiner Heftigkeit zu. Als würde das Wetter in direkter Verbindung mit dem Mädchen stehen bäumte es sich auf wie ein unzähmbares Raubtier, das gegen seine Fesseln kämpfte.
Die Augenlieder des Babys zuckten und es schien für einen winzigen Augenblick, dass es erwachen würde … Doch dann erschien lediglich erneut der Anflug eines zufriedenen Lächelns auf seinem Gesicht.
Die junge Frau seufzte vor Erleichterung. Sie wusste, dass es ihr das Herz brechen würde, wenn das kleine Mädchen noch einmal seine magisch leuchtenden Augen öffnen würde und sie ansah, mit seinem unschuldigen und unwissenden Blick.
"Hoffentlich werde ich dich irgendwann wieder sehen, meine Isalia. Vielleicht, ja vielleicht können wir dann gemeinsam ein normales Leben führen ... Vielleicht ist dann alles vorbei ... ", dachte sie voller Schmerz. Mit zitternden Fingern steckte sie einen kleinen Briefumschlag in die Falten des Tuches, dass um das Baby gewickelt war. In elgegant geschwungener Schrift stand darauf der Name der Waisenhausleiterin. Dann kniete sich die Frau nieder und gab ihrer Tochter einen letzten Abschiedskuss. Es war kein Abschied für immer, das wusste sie, doch für eine sehr, sehr lange Zeit. Nach einem letzten Blick in das kleine, rundliche Gesicht, verschwand die Frau mit wallendem Umhang in der Dunkelheit und das Tosend des Sturms verschluckte das Geräusch ihrer Schritte.
Das kleine Mädchen blieb zurück, unwissend, dass seine Zukunft schon vor der Geburt bestimmt worden war, eine Zukunft, die ihm viel Ruhm oder aber den Untergang bringen würde.